Wednesday, September 16, 2015

1990 - The First Year of Transition

 1990 - The First Year of Transition

Imre Kertész Kolleg, Friedrich Schiller Universität Jena
11.06.2015-12.06.2015, Jena

Bericht von:
Matthias Stadelmann, Institut für Geschichte, Lehrstuhl Osteuropäische
Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
E-Mail: <matthias.stadelmann@fau.de>

Nach Konferenzen in den ostmitteleuropäischen Metropolen Prag, Budapest
und Warschau veranstaltete das Imre Kertész Kolleg seine Jahrestagung
2015 im heimischen Jena.  Thema war ein - wenngleich spannendes - Jahr.
"1990 - The First Year of Transition" zollte aus der
"Jubiliäums-Perspektive" von 25 Jahren einem Jahr rückblickenden Tribut,
welches beim Erinnern an den Systemwandel in Ostmitteleuropa meist nicht
im Mittelpunkt steht. Auf 1989, das Jahr der Revolutionen und Umbrüche,
das Jahr der Regimewechsel und der Maueröffnung, das Jahr, in dem der
Aufbruch seinen Anfang nahm, richteten sich häufig die Blicke von
Historikern und Zeitzeugen. 1990 geht da, blendet man einmal das
deutsche Wiedervereinigungsgeschehen aus, eher unter, bevor die durch
dramatische Geschehnisse beschleunigte Auflösung der Sowjetunion 1991
wieder mit dem Potential eines (zumindest osteuropäischen) Epochenjahres
ausstattete.

Vor diesem Hintergrund erscheint es als ein berechtigt innovatives
Unterfangen, jenes Jahr 1990 als "erstes Jahr des Übergangs" in den
Fokus zu nehmen und damit auch einen Akzent zu setzen gegen jene
Makroperspektive, die, bezogen auf Ostmitteleuropa, mit den Umbrüchen
1989 die soziopolitischen und ökonomischen Sachen als "gelaufen"
ansieht. Man sei den Staatssozialismus losgeworden und habe die -
vermeintlich - alternativlosen parlamentarisch-marktwirtschaftlichen
Wege nach westlichem Vorbild eingeschlagen, wobei gewisse regionale
Nuancen nichts an der prinzipiell zugrunde gelegten Teleologie einer
"garantierten" (west-) europäischen Entwicklung seit Beginn der 1990er
Jahre zu ändern brauchen. Die entscheidenden Schlachten waren 1989
geschlagen, von da an ging es  - nach solcher Sichtweise - nur noch
darum, auf dem nachholenden Durchmarsch nach "Europa" eventuelle lange
Talsohlen und steile Berge zu überwinden. Taucht man freilich
rückblickend ein in Realitäten und Konzeptionen des Jahres 1990,
verändern sich die Bilder. Schließlich, so formulierte es die Jenaer
Konferenzankündigung, "löste der unerwartete und unwiderrufliche Fall
des Kommunismus Aufregung aus gepaart mit Unsicherheit, Angst und
enormen Herausforderungen, in Politik und Gesellschaft ebenso wie im
Privatleben". So sollte es unter anderem das Ziel der Tagung sein, durch
Fallstudien aus den Bereichen Politik, Geistesleben, Wirtschaft und
Alltag verschiedene Aspekte der mittel- und osteuropäischen
Übergangsgesellschaften im ersten Jahr nach dem Neuanfang im
vergleichenden Rahmen auszuloten. Eines der Anliegen war dabei die
Bestimmung des Verhältnisses von überkommenen Werten bzw.  Erfahrungen
und neuartigen Paradigmen bei der Ausgestaltung von Staat, Wirtschaft
und Gesellschaft, womit auch ein Beitrag zur Historisierung jener
Transformationsjahre jenseits politischer Empathie möglich erscheint.

Gerade hierauf wies der Osteuropahistoriker und Ko-Direktor des Imre
Kertész Kollegs, JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena), in seinen einführenden
Worten nochmals hin: Bei aller Attraktivität der westlichen
parlamentarischen Demokratie für die Regimegegner im Sozialismus habe es
in jener Umbruchsphase keineswegs transformationstheoretische
Naturgesetzlichkeiten gegeben, die den Weg der ostmitteleuropäischen
Staaten diktiert hätten. Aufgabe der historischen Forschung sei es an
dieser Stelle, mit einem gewissen mikrohistorischen Impetus Erwartungen,
Befürchtungen und Problemwahrnehmungen der Zeit selbst ernst und die
unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Optionen in den Blick zu
nehmen, um so die Eigengesetzlichkeiten der historischen Dynamik adäquat
erklären zu können.
Zu Beginn hatte es PHILIPP THER (Wien) übernommen, in einer key note
lecture (Groping in the Dark. Expectations and Predictions 1988-1991)
über Voraussetzungen, Entscheidungsoptionen, Wunschvorstellungen und
Umsetzungsprobleme in Zusammenhang mit den Systemübergängen in den
ostmitteleuropäischen Staaten zu räsonieren. Dabei streifte er die oft
als untrennbar vorgestellten Zusammenhänge zwischen politischer und
wirtschaftlicher Reform (Stichworte Demokratie und Marktwirtschaft), die
längst eingetretene Krise der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, den
daraus resultierenden Übergang von Keynesianischen Modellen zu
neoliberalen Konzepten und die Konsequenzen dieses Paradigmenwechsels
für die Orientierung der osteuropäischen Reformer. Ausführlicher ging
Ther dabei auf Polen ein, welches in der radikalen "Schocktherapie" des
Finanzministers Balcerowicz als erstes der neuen neoliberalen Agenda
folgte. Während eindeutige Zusammenhänge zwischen Reformradikalität und
-erfolg nicht belegt werden können, scheint die Kausalität zwischen
einer nur rudimentär ausgebildeten Demokratie und der Möglichkeit,
schmerzhafte Wirtschaftsreformen nicht nur zu implementieren, sondern
auch konsequent an Ihnen festzuhalten, klar auf der Hand zu liegen.
Entgegen dem meist mit Verbindlichkeitsanspruch vorgetragenen Diskurs
müssten also Demokratisierung und Marktwirtschaft, zumindest in ihren
Anfangsstadien in Ostmitteleuropa, nicht immer von proportionalen
Verhältnissen gekennzeichnet sein.

Hieran knüpfte das erste Panel (An End. Dismantling Communism) an:
Joachim von Puttkamer thematisierte den Wandel der Erwartungshaltungen
gegenüber der begonnenen Systemtransformation in Polen 1989/90 und
fragte danach, inwieweit die "Demontage" des Kommunismus in Polen
tatsächlich jener "determined and purposeful process" war, den sich die
Anti-Kommunisten vorstellten, und wie dieser Prozess in der
Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Puttkamer argumentierte, dass die
neue Regierung in Polen gegenüber dem alten Sicherheits- und
Machtapparat frühzeitig und nachhaltig aktiv geworden war, dass jedoch
diese Aktivität von der Bevölkerung oft mit ungeduldiger, unbefriedigter
Skepsis aufgenommen wurde. Auch beim Umgang mit der kommunistischen
Nomenklatura etablierte sich in der Bevölkerung die Ansicht, dass der
Elitenwechsel nicht stringent genug durchgeführt werde. Anderseits gab
es auch Befürchtungen, dass durch einen zu handstreichartig
durchgeführten Elitentausch eine neue (Solidarnosc-) Nomenklatura in die
Machtstrukturen gebracht werden könnte, zumal es auch an Ambitionen im
Walesa-Lager nicht mangelte.

JAMES KRAPFL (Montreal) legte den Schwerpunkt auf den Wandel der
gesellschaftlichen Präferenz für einen reformierten Sozialismus oder
zumindest einen "Dritten Weg" Ende 1989 hin zu einer deutlichen
Unterstützung für radikale marktwirtschaftliche Reformen im Jahr darauf.
Erst im Laufe des Jahres 1990 kam es zu einer Abkehr von
reformsozialistischen Visionen, wofür Krapfl vor allem "activities and
rhetoric" der Kommunistischen Partei verantwortlich macht. Demnach habe
die Zögerlichkeit der Repräsentanten der bisherigen Macht, Privilegien
aufzugeben und Strukturen zu verändern, schnell zur Diskreditierung
sozialistischer Erneuerungskonzepte beigetragen.

Auch LJUBICA SPASKOVSKA (Exeter) versuchte in ihrem Beitrag "The
Beginning of the End - The Yugoslav 1990" Gegenakzente zur
Mainstream-Wahrnehmung zu setzen, in ihrem Fall freilich vor allem
bezogen auf die Hinterfragung des ethno-nationalen Paradigmas, welches
am Ende unerbittlich gegen alle jugoslawischen Konzeptionen triumphieren
sollte - mit den bekannten, auch kriegerischen bzw. gewalttätigen
Konsequenzen. Für Spaskovska verschweigt die Ausblendung
"anti-nationalistischer" und "pro-jugoslawischer Tendenzen" eine im Jahr
1990 nach wie vor denkbare Entwicklungsvariante. Das bekannte Scheitern
einer demokratischen, gesamtjugoslawischen Erneuerung begründete
Spaskovska außer mit polittaktischen Defiziten auf Seiten ihrer
intellektuellen Protagonisten mit zwei Hauptfaktoren: den mangelnden
gesamtstaatlichen Affinitäten und der mangelnden Attraktivität
links-liberaler intellektueller Konzepte. So war auch einer der Befunde
von Kommentator JAMES MARK (Exeter), dass alternative Entwicklungswege
und insbesondere transnationale Konstellationen in der Erforschung von
(Süd-) Osteuropas Zeitgeschichte stärkere Berücksichtigung finden
sollten.

In Panel 2 stand "Building Democracy" im Mittelpunkt. MICHAL KOPECEK
(Prag) konzentrierte sich dabei in seine Ausführungen zu Central and
Eastern Europe vor allem auf Konzepte und Bedeutungen, die Recht und
Politik zusammenbringen: Legalität, Legalismus, Konstitutionalismus,
Rechtsstaat etc. Schließlich waren die Geschehnisse von 1989 nicht nur
"political", sondern auch "legal events". Aus solchem Blickwinkel lassen
sich die mitteleuropäischen Revolutionen von 1989 als Kreuzungspunkte
unterschiedlicher Auffassungen von Legalität beschreiben, etwa einer
sozialistischen und einer dissidentischen, die bereits während der
sozialistischen Regierungen stets Berührungspunkte aufwiesen, etwa indem
sowohl der oppositionelle Legalismus als auch der sozialistische
Rechtsstaat der 1960er und der 1980er Jahre versuchten, sich an der
strikten Einhaltung der Gesetze auszurichten.  Während BOGDAN IACOB
(Bukarest) unter den Leitfragen "Transition to What?" und "Whose
Democracy?" die Entwicklungen der Jahre 1987 bis 1992 in Bulgarien und
Rumänien in einer Art Parallelbetrachtung vorführte, widmete sich
MARIE-JANINE CALIC (München) der Frage nach dem Zusammenhang von
Demokratisierung und Kriegsgefahr in Jugoslawien 1990. Ausgangspunkt war
die Feststellung, dass, im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme,
Demokratie nicht automatisch Frieden brächte und dass es in Jugoslawien
- wie auch im Kaukasus - Zusammenhänge zwischen Demokratisierung und
nationalistisch motivierten Gewaltausbrüchen gegeben habe. Verschiedene
Faktoren seien für die Entstehung real angewandter, gewaltbereiter
Nationalismen im Zuge der jugoslawischen Demokratisierung
verantwortlich: Die desaströse wirtschaftliche und politische Lage habe
zur der Aufspaltung der Kommunistischen Partei geführt, zum Verlust
unifizierender Überzeugungskraft und zur Entstehung neuer politischer
Kräfte, die ihre Ausrichtung entlang ethno-nationaler Identitätslinien
vornahmen und dafür gerade auch der Abgrenzung dem vermeintlich
"anderen" gegenüber bedurften. Schwache staatliche Strukturen hätten in
der Umbruchsphase ebenfalls die nationalistische Zuspitzung gefördert,
da diese Legitimität und Berufung suggerieren könne. Zu guter Letzt habe
auch die von der internationalen Gemeinschaft propagierte Mehrheitswahl
in ethnisch diversifizierten Territorien, wie etwa Bosnien und
Herzegowina, zu Versuchen der Interessendurchsetzung durch Gewalt
beigetragen, da überstimmte ethnische Minderheiten in kardinalen Fragen
ihre Felle für immer davon schwimmen sahen.

Realitäten und Unsicherheiten des Alltagslebens waren Thema von Panel 3.
JOANNA WAWRZYNIAK (Warschau) konzentrierte sich auf die Schilderung des
Schicksals eines früheren Beschäftigten einer Tabakfabrik in Radom und
seine im Oral History-Verfahren gewonnene Erfahrungen. Interessant daran
sei einerseits, dass der Betreffende die Zeit des Sozialismus nicht
nostalgisch sehe, anderseits, dass er sein Leben, trotz des
Arbeitsplatzverlustes Mitte der 90er Jahre als Erfolgsgeschichte
wahrnehme.

ÉVA KOVÁCS (Budapest) schien mit dem konferenzleitenden Jahr 1990 nicht
glücklich zu sein, begann sie ihren sehr emotional gefärbten Beitrag
"Talkin' bout a revolution" doch mit einer Ehrenrettung des Jahres 1989
in seiner Bedeutung für die einfache ungarische Bevölkerung. Ein
angeblicher Gemeinplatz besage, dass die Angehörigen der "lower classes"
die ostmitteleuropäischen Revolutionen 1989 aufgrund struktureller
Umstände nicht als bedeutsam für ihr Alltagsleben wahrgenommen hätten -
das Gegenteil sei jedoch der Fall. Im zweiten Teil ihres Vortrags
brachte Kovács ein individuelles Beispiel eines ehemaligen bischöflichen
landwirtschaftlichen Gutes. Dessen Bewohner hatten ihre besten Zeiten
wohl während des Staatssozialismus erlebt, die mehrfachen rechtlichen
und ökonomischen Transformationen seit 1989 brächten für die -
wechselnden - Bewohner des ehemaligen Gutes bestenfalls heterogene
Unsicherheit.

Auch STANISLAV HOLUBEC (Jena) hatte bei seinem Beitrag über "New Czech
Entrepreneurs after 1989" sein Problem mit der Festlegung auf das Jahr
1990, weshalb er seine Analyse auf die "ersten drei postrevolutionären
Jahre" ausdehnte. Dabei gelang es ihm, am Beispiel des neuen
tschechischen Unternehmertums die besonders positive Wahrnehmung der
Marktwirtschaft in der tschechischen Öffentlichkeit vorzuführen. Schon
der statistische Vergleich mit den benachbarten Transformationländern
zeigt, dass die Tschechoslowakei ein Vorreiter bei der Expansion
privater Wirtschaftsunternehmungen, egal welcher Größe, war. Holubec
erklärte dies einleuchtend mit einer recht stabilen wirtschaftlichen
Situation, mit Traditionen der Zwischenkriegszeit, aber auch mit einem
gewissen Nachholbedarf, der durch die, verglichen mit den
Nachbarstaaten, besonders strikte Haltung der tschechoslowakischen
Kommunisten gegenüber dem "private business" entstanden sei.
Exemplarisch stellte Holubec drei prominente, ganz unterschiedliche
Figuren des neuen tschechischen Kapitalismus vor - den zurückkehrenden
Schuhfabrikanten Bat'a, den virtuos betrügenden Harvard-Absolventen
Kozený und den schmierigen Schmuddelunternehmer Jonák. Holubec machte
für die hohe Akzeptanzrate kapitalistischen Wirtschaftens in Tschechien
nicht zuletzt die vergleichsweise gute ökonomische Situation der
Mehrheitsbevölkerung verantwortlich. In seinem Kommentar ergänzte LUTZ
NIETHAMMER (Jena) den Kontext mit einigen Ausführungen zur DDR, verweis
freilich gleichzeitig auf einige Probleme der alltagsgeschichtlichen
Annäherungen an die Transformationszeit, etwa die oftmals mangelnde
Vergleichbarkeit zwischen den unterschiedlichen Ländern oder die
generelle Weitgespanntheit, um nicht zu sagen Disparität
alltäglich-lebensweltlicher Erfahrungen. In jedem Fall, so seine
Anregung, müsse man auch Kategorien wie "Generation" oder "Geschlecht"
in die alltagsgeschichtlichen Analysen miteinfließen lassen.

Von den Lebenswelten ging es im Panel 4 zur Ebene der internationalen
Politik, deren Konstellationen vor allem von der Lage des (ehemaligen)
"Patrons", der Sowjetunion, mitbestimmt wurden. MARY ELISE SAROTTE (Los
Angeles) thematisierte in ihrem Beitrag den Umgang der westlichen
Außenpolitik mit der Sowjetunion. Breiten Raum nahm dabei die in den
aktuellen politischen Umständen wieder heiß diskutierte Frage ein, ob
der Westen der Sowjetunion seinerzeit den Verzicht auf eine Ostexpansion
der NATO zugesichert habe. Sarotte führte sehr eindrücklich ihre bereits
andernorts zu lesenden diplomatiegeschichtlichen Quellenrecherchen vor,
die recht klare Ergebnisse liefern. Die westliche Aktionsgemeinschaft,
bestehend aus US-Präsident Bush und Bundeskanzler Kohl und deren
Außenministerien, habe demnach den unter Druck geratenen, an zahlreichen
inneren wie äußeren Fronten agierenden Gorbacev über den Tisch gezogen:
mit beruhigenden, nicht eindeutigen, vor allem aber nicht schriftlich
festgelegten Formulierungen zur damals nicht aktuellen
NATO-Osterweiterung - was man sich auch ohne Umschweife eingestand. Am
Ende gelang es, Gorbacev die Zustimmung zu einer NATO-Mitgliedschaft
auch des vereinten Deutschlands abzukaufen, wogegen zum weiteren
Vorgehen in Osteuropa keine verbindlichen schriftlichen Dokumente mehr
vorlagen.

Die aktuellen Ereignisse und Diskurse des Jahres 2015 waren auch im
zweiten Paper dieses Panels, indirekt präsent: LUKASZ ADAMSKI (Warschau)
betrachtete "The Soviet Union's dissolution from the Ukrainian
perspective". Dabei betonte er, dass die ukrainische
Unabhängigkeitserklärung vom August 1991 entscheidend für die Auflösung
der Sowjetunion gewesen sei. Nun ist sicher der Umstand, dass sich die
zweitgrößte Republik der Union einer Fortführung des gemeinsamen
Staatswesens gegenüber negativ verhielt, in seiner Bedeutung alles
andere als zu unterschätzen. Trotzdem werfe die These, die Ukraine sei
der Schlüsselfaktor für das Ende der UdSSR gewesen, in ereignis- und
zeitgeschichtlicher Begeisterung wohl zu vieles an Multikausalität bei
der schwierigen und komplexen sowjetischen Spätphase über Bord, als dass
sie in die Geschichtsbücher als verbindliche Erkenntnis eingehen wird.

Eine Abstimmung ganz anderer Art, nämlich mit den Füßen, stand im
Mittelpunkt von TIM SCHANETZKYS (Jena) Beitrag über "The Case of the Two
Germanies", mit welchem er das fünfte und letzte Panel eröffnete, das
sich der deutschen Frage im europäischen Rahmen des Jahres 1990 widmete.
Die DDR war bekanntermaßen unter den mittel-osteuropäischen
sozialistischen Staaten der große Ausnahmefall, da der westdeutsche
Staat als Vorbild (je nach politischem Standort auch Feindbild) vor der
Haustür lag und die Einheitsfrage für besondere wie singuläre
Problemstellungen und Agenden sorgte. Schanetzky legte seinen Focus auf
ein bislang unterbelichtetes und damit seiner Meinung nach auch
unterschätztes Phänomen im Zuge des Vereinigungsprozesses, nämlich die
immensen innerdeutschen Migrationsbewegungen von Ost nach West und ihre
große politische Konsequenz in Form des rapiden Vereinigungstempos.

WILFRIED LOTHS (Duisburg-Essen) - aufgrund der Abwesenheit seines Autors
- von William Martin (Jena) verlesener Beitrag behandelte die
diplomatiegeschichtliche Situierung der deutschen Frage im europäischen
Kontext am Beispiel der wichtigen deutsch-französischen Verständigung im
Rahmen des Straßburger EG-Gipfeltreffens vom Dezember 1989. Die
polnische Perspektive auf die deutsche (Vereinigungs-) Frage erläuterte
vor dem breiteren ostmitteleuropäischen Hintergrund auf profunde Weise
WLODZIMIERZ BORODZIEJ, Ko-Direktor des Jenaer Kertész Kollegs. Für Polen
sei das deutsche Thema in den Jahren 1989/90 aufgrund der geographischen
und historischen Gegebenheiten von anderer Relevanz als für Ungarn oder
die Tschechoslowakei gewesen. Diese Konstellation versuchten die
kommunistischen Machthaber zu ihren Gunsten auszunutzen - nur eine
starke Anbindung an die Sowjetunion würde die polnische Westgrenze
garantieren. Allerdings seien (auch) Polens Kommunisten von der Dynamik
der Ereignisse in der deutschen Frage völlig überrascht worden, sodass
sie selbst in innerpolnischen Diskursen zu völliger außenpolitischer
Einflusslosigkeit herabsanken. Die polnischen Reformkräfte dagegen
hätten die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung von Anfang an
im Blick und das deutsche Recht auf Einheit nie in Frage gestellt, auch
wenn Kanzler Kohls dilatorischer Umgang mit der polnischen Westgrenze
Ende 1989 für Irritationen in Warschau gesorgt hatte. Der
Reformregierung - und den polnisch-deutschen Beziehungen - sei dabei
jedoch der innerpolnische Umstand zugutegekommen, dass die Gegner einer
konzilianten Haltung entweder, wie die Kommunisten nicht mehr, oder, wie
das rechte Lager, noch nicht in der Lage gewesen seien, ihre Ansichten
öffentlichkeitswirksam zu ventilieren.
Die Jahrestagung 2015 des Imre Kertész Kollegs brachte bei ihrem
Anliegen, nach 25 Jahren auf das "erste Jahr des Übergangs"
historisierend zurückzublicken, vieles zusammen: Forscher
unterschiedlicher Disziplinen internationaler Provenienz;
verschiedenartigste Ansätze zur zeitgeschichtlichen Thematisierung von
der klassischen Diplomatiegeschichte über politik- und sozialhistorische
Annäherungen im weitesten Sinne bis hin zur kulturellen Anthropologie;
staatliche, wirtschaftliche und nationale Anliegen; impressionistische
Momentaufnahmen und weitweisende Analysen; Bemühungen um Vergleich und
Zusammenführung sowie resignierender, durch Disparität bedingter
Verzicht darauf; empathische Haltungen von Zeitzeugen und Blicke aus der
überseeischen Ferne; die diversifizierten und doch in unterschiedlichen
Strukturen miteinander verbundenen ostmitteleuropäischen Territorien von
Kiew bis Berlin, von Danzig bis Sarajevo; die Marasmen des
Staatssozialismus und die unsicheren, doch willensstarken,
herausfordernden, doch hoffnungsvollen Neuanfänge; Geschichten und
Konstellationen von Erfolg und Scheitern; Finten und Finessen großer
Staatsmänner und Alltagsmühen "kleiner Leute".

Das Anliegen der Konferenz, "die vielfältigen Aspekte und Reaktionen
einer Welt in schnellem Übergang im ersten Jahr nach dem Zusammenbruch
des Staatssozialismus zu erforschen" und dabei auf "Fallstudien aus den
Gebieten Politik, Wirtschaft, Geistesgeschichte und Alltagsleben"
zurückzugreifen, nicht zuletzt um "die Anstrengungen der Menschen, mit
unerwarteten Herausforderungen umzugehen zu rekonstruieren", wurde damit
auf durchaus nachhaltige Weise erfüllt. Was die in diesem Zusammenhang
ebenfalls intendierten Fragestellungen nach den Bedeutungen alter und
neuer Werte bzw. Konzepte angeht, so steht außer Zweifel, dass die
Tagung sie berührt hat. Vielleicht hätte man jedoch die Referenten (und
Kommentatoren) noch eindringlicher auf die Verfolgung dieser
Erkenntnisziele hinweisen sollen, wie überhaupt eine stärkere
Ausrichtung der individuellen Beiträger auf das gemeinsame Tagungsziel
nicht unwillkommen gewesen wäre. Ungeachtet dessen gab es jedenfalls
viel zu lernen und zu erfahren über das ostmitteleuropäische Jahr 1990
und seinen Kontext sowie über die Nöte, Hoffnungen, Perspektiven und
Handlungen seiner Zeitgenossen. Insbesondere wurde deutlich, dass es -
wie in den meisten historischen Situationen - auch im Jahr 1990 keine
zwangsläufig vorgegebenen Entwicklungslinien gab, sondern verschiedene
Auswahl- und Entscheidungsoptionen, an Herausforderungen und
Bedrohungen, an Ängsten und Hoffnungen, an Alpträumen und Visionen.
Rechtzeitig gilt es durch interdisziplinäre, komparative,
multiperspektivische Forschung dafür Sorge zu tragen, dass der Neuanfang
nach dem Ende des Staatssozialismus in künftigen Geschichtsbüchern nicht
als stromlinienförmige Geschichte von Unausweichlichkeiten geschrieben
wird. In Jena war für Teilnehmer wie für Zuhörer auch zu lernen, wie
schwer es gegenwärtig (noch) ist, Geschichte(n) jenes Jahres zu
konzipieren, zumindest dann, wenn Stringenz, Vergleichbarkeit und
Verallgemeinerung angestrebt werden, ohne das individuell Besondere zu
vernachlässigen. Gerade dieser Umstand demonstriert aber nur, wie
notwendig es ist, diese Thematik historisierend und vergleichend zu
erwähnen. Mit Facettenreichtum untermauerte die Jenaer Tagung auf
eindrucksvolle Weise den Anspruch des Imre Kertész Kollegs, einer der
Orte zu sein, an denen Geschichte und Geschichten der europäischen
Transformationsjahre im 20. Jahrhundert geschrieben werden.

Konferenzübersicht:

Introduction
Keynote Lecture Philipp Ther: Groping in the Dark. Expectations and
Predictions 1988-1991
Chair: Wlodzimierz Borodziej

Panel 1: An End. Dismantling Communism
Joachim von Puttkamer on Poland; James Krapfl on Czechoslovakia; Ljubica
Spaskovska on Yugoslavia.
Comment: James Mark, Chair: Stanislav Holubec

Panel 2: A Beginning. Building Democracy
Michal Kopecek on Central and Eastern Europe; Bogdan Iacob on Romania
and Bulgaria; Marie-Janine Calic on Yugoslavia.
Comment: Petr Roubal, Chair: Milan Ristovic

Panel 3: Managing Uncertainty. Everyday Lives in Transition
Joanna Wawrzyniak on Poland; Armina Galijas on Bosnia; Éva Kovács on
Hungary.
Comment: Lutz Niethammer, Chair: Attila Pók

Panel 4: Collapse of the Patron. The Impending Dissolution of the Soviet
Union
Mary Elise Sarotte on Foreign Policy; Lukasz Adamski on Ukraine.
Comment: Wolfgang Eichwede, Chair: Raphael Utz

Panel 5: A European Solution to the German Question?
Tim Schanetzky on the two Germanies; Wilfried Loth on the European
Dimension; Wlodzimierz Borodziej on Polish Perceptions and Expectations

Comment: Holly Case, Chair: John Connelly

URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=6158>

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